Eine neue Hand für Anas

Johanniter-Unfall-Hilfe, Sanitätshaus Meyer und das St. Bernward Krankenhaus versorgen gefolterten 16-jährigen Flüchtling aus dem Irak mit einer Prothese

Mit konzentrierter Miene greift Anas nach der Sprühdose, die auf dem Tresen steht. Langsam und vorsichtig nimmt er sie in die rechte Hand – als er sie schließlich hält, lächelt er zaghaft. Noch vor wenigen Wochen wäre diese für die meisten Menschen selbstverständliche Bewegung für den 16-jährigen Flüchtling aus dem Irak unvorstellbar gewesen. IS-Kämpfer hatten Anas in seinem Heimatland die rechte Hand abgeschlagen. Mit der Unterstützung der Johanniter-Unfall-Hilfe, des Sanitätshauses Meyer und des St. Bernward Krankenhauses in Hildesheim hat der Junge nun eine Prothese erhalten.

Es ist ein Tag im Oktober 2015, an dem sich Anas’ Schicksal für immer ändern soll. Seit dem Tod des Vaters und der ältesten Schwester hat der 16-jährige Iraker die Rolle des Familienoberhauptes übernommen. Zur Schule geht er schon lange nicht mehr. Stattdessen arbeitet er auf dem Bau und in Werkstätten oder schmuggelt heimlich Zigaretten aus Syrien in den Irak, um sie in seiner Heimatstadt Mossul auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen – auch an jenem Oktobertag. Zu Hause sitzt seine Mutter Nahlah mit den drei Geschwistern auf gepackten Taschen. Am Abend will sie mit ihren vier Kindern vor der Gewalt und dem Terror des IS aus dem Irak fliehen. Als Anas an diesem Abend nicht nach vom Markt nach Hause kommt, ist sie verzweifelt. Ihr Geld reicht nicht, um den Schleuser, der ihre Familie aus der Stadt bringen soll, ein zweites Mal zu bezahlen. Also zieht die Familie schweren Herzens los – ohne Anas‘. Was Nahlah nicht weiß: Ihr ältester Sohn wurde an diesem Tag auf dem Schwarzmarkt erwischt und in ein Gefängnis gebracht. Tagelang wird er dort gefoltert und verhört. Schließlich landet er vor einem Gericht des IS, soll eigentlich in die Freiheit entlassen werden. Doch die IS-Kämpfer bringen ihn mit verbundenen Augen auf den Marktplatz und schlagen ihm dort mit einer Axt die rechte Hand ab. Anas fällt in Ohnmacht und wacht erst wieder in einem Krankenhaus auf, in dem er notdürftig verarztet wird. Vom Krankenhaus aus macht sich Anas auf den Weg in die Türkei zu einem Onkel. Dieser gibt seinem Neffen Geld für die Fahrt im Schlauchboot nach Griechenland. Über die Balkanroute zieht Anas weiter nach Mazedonien. Dort wird sein Pass eingezogen, er soll sich als Flüchtling registrieren lassen. Eine Frau hilft dem Jungen jedoch und schickt ihn mit den Worten „Vergiss den Pass, Anas. Lauf, so schnell du kannst“ über die Grenze. Wochen nach seiner Flucht landet Anas schließlich im bayerischen Rosenheim. Über das Jugendamt stellen die dortigen Helfer Kontakt zu seiner Mutter her, die mit den drei Geschwistern mittlerweile im niedersächsischen Sarstedt wohnt. Die 47-Jährige kann ihr Glück kaum fassen und reist sofort nach Rosenheim, um ihren Sohn in die Arme zu schließen. Als sie den Armstumpf ihres Sohnes sieht, ist ihr Entsetzen so groß, dass sie in Ohnmacht fällt. Um sie nicht zu beunruhigen, hatte Anas seiner Mutter nichts von seinem grausamen Schicksal erzählt.< br/> Nachdem die Mutter sich erholt hat, kommt die Familie in einer Flüchtlingsunterkunft der Johanniter-Unfall-Hilfe in Sarstedt unter. Ganz langsam findet Anas ins Leben und in die Normalität zurück – so gut es eben geht. Auf geschenkten Inline-Skates flitzt er mit seinen Geschwistern durch die Unterkunft und versucht, das Erlebte irgendwie zu verarbeiten. Doch sein Armstumpf macht ihm zu schaffen – nicht nur wegen der fehlenden Hand, auch wegen des Stigmas, das nun an ihm haftet. Aus Pappe und Zahnpasta bastelt er sich eine Ersatzhand. Einrichtungsleiter Klaus Bruns von der Johanniter-Unfall-Hilfe kann dies nicht länger mit ansehen und berichtet den Mitgliedern seiner Organisation per Mail vom dem Schicksal des Jungen. Die Mail erreicht auch den Ärztlichen Direktor des St. Bernward Krankenhauses in Hildesheim, Professor Dr. Georg von Knobelsdorff. Sofort wird der Mediziner aktiv, ruft noch am selben Abend seinen Kollegen Privatdozent Dr. Markus Beck an, den Chefarzt der Orthopädie und Unfallchirurgie am St. Bernward Krankenhaus. „Solch ein Schicksal trifft einen menschlich richtig tief“, stellt von Knobelsdorff fest. „Man fragt sich: Was, wenn das der eigene Junge wäre? Für uns war sofort klar, dass wir helfen wollen.“

Wenige Tage später sitzt Anas in der Sprechstunde von Dr. Markus Beck. Der Facharzt für Handchirurgie untersucht den Stumpf und rät zu einer Prothese. Schnell ist der Kontakt zum Sanitätshaus Meyer hergestellt, das eine Filiale im St. Bernward Krankenhaus betreibt. Auch dessen Inhaber Frank Meyer ist von Anas‘ Schicksal tief berührt und will helfen: Auf eigene Kosten stellt das Unternehmen eine mechanische Prothese her und passt diese dem Jungen an. Schon wenige Wochen später kann Anas die Prothese mit Hilfe seiner Schultermuskulatur bewegen und einfache Griffe bewerkstelligen. „Die Prothese ist ein Einsteigermodell, um Anas an das Gewicht und die Funktionen zu gewöhnen“, erläutert Beck. Mit viel Training und einer höherwertigen Prothese habe Anas später einmal die Möglichkeit, bis zu 36 verschiedene Griffe zu erlernen. „Die Voraussetzung hierfür ist natürlich, dass er auch künftig gut betreut wird“, sagt der Chefarzt.

Darum will sich Klaus Bruns kümmern. „Anas‘ Familie wird in Kürze nach Seelze ziehen“, sagt der Einrichtungsleiter der Johanniter. Mit der Stadt habe er bereits Kontakt aufgenommen. „Wir werden uns dafür einsetzen, dass die Familie auch weiterhin unterstützt wird – damit Anas eine Zukunft hat.“